Das Gedicht habe ich in einem Buch über Männer gefunden. Es fragte, was vom Charakter her heute noch „männlich“ sein könnte.
OK, das lautstark, raumgreifende bis übergriffige Gebahren war da nicht mit gemeint. Sondern eher etwas, was Rolf Dobelli in „Die Kunst des guten Lebens“ als Circle of Dignity bezeichnet. Dieser Kreis der Würde ist eine Überzeugung, für die man einsteht und auch Stress in Kauf nimmt. Sie gibt sich nicht auf und bewahrt Selbstrespekt. Wem Würde etwas bedeutet, der gewährt sie grundsätzlich jedem Lebewesen, dass empfinden kann. Nach Dobelli ist sie „unabdingbar für ein gutes Leben“, das kein bequemes sein muss.
„If…“ heißt das Gedicht von Rudyard Kipling, der mit dem „Dschungelbuch“ bekannt wurde und 1907 den Literaturnobelpreis bekam als erster Brite und jüngster Schriftsteller überhaupt.
Bei den Briten ist „If…“ ziemlich beliebt und der Vers mit „Erfolg und Niederlage“ steht über dem Centre Court von Wimbleton.
Vielleicht steht für uns Epochenumbruch an und damit eine Reise ins Unbekannte. Das wird viele zu Angstbeißern machen, reizbar und aggressiv. Es sei denn, wir entscheiden uns, unsere Würde zu bewahren und so mutig zu werden wie kaum eine Generation vor uns. Das wird uns gelingen, wenn wir uns beistehen, gegenseitig ermutigen und inspirieren, gemeinsam neue Lösungen zu finden.
WENN …
Wenn du kühlen Kopf bewahrst, auch wenn rings die Leute
Ihn verlieren und voller Wut nach Opfern schreien;
Dir treu sein kannst, wenn alle dich verlassen,
Und kannst den Menschen dennoch ihren Wankelmut verzeih’n;
Wenn du warten kannst und langes Warten tragen,
Läßt dich mit Lügnern nicht auf Lügen ein;
Kannst du dem Hasser deinenHass versagen
Und doch dem Unrecht gegenüber unversöhnlich sein:
Wenn du kannst träumen, doch kein Träumer werden;
Nachdenken kannst – doch kein Grübler sein;
Wenn dich Erfolg und Niederlage nicht mehr gefährden,
Weil beide du als Schwindel erkennst, als Schein;
Kannst du zu deiner Wahrheit stehn, die du gesprochen,
auch wenn sie verdreht wird vom Pöbelhauf,
Und siehst dein Lebenswerk zerbrochen
Und baust es trotzdem wieder auf?
Wenn du alles auf eine Karte setzen kannst
Die Summe all dessen, was du je gewannst,
Es ganz verlierst, aber nicht darum klagst,
Nur wortlos ganz von vorn beginnen kannst?
Kannst du zu den Leuten ohne Plumpheit sprechen,
Und im Umgang mit den Großen bleibst du schlicht;
Läßt dich nicht von Freund noch Feind bestechen,
Schätzt du den Menschen, doch überschätzt ihn nicht;
Füllst jede einzelne Minute
Mit sechzig sinnvollen Sekunden an:
Dein ist die Erde dann mit allem Gute,
Und was noch mehr ist: Dann bist du ein Mann!
(Rudyard Kipling)