Gelegenheiten entdecken und beim Schopfe packen – wie geht das?

Wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch: Der Heiligenfelder Kongress in Zeiten des epochalen Umbruch

Der Wandel geschieht gerade und er ist grundlegend, so die Referenten des Kongresses „Kairos – den Wandel gestalten“ der Akademie Heiligenfeld vom 8. Bis 10. Juni in Bad Kissingen, einem bayrischen Staatsbad, das dem Wandel trotzt mit liebevoll restaurierten historischen Gebäuden und Interieur und gelegentlichen Bällen in historischen Uniformen der k.u.k.-Monarchie. In dieser historischen Atmosphäre einer Zeit, als die Welt scheinbar noch in Ordnung wahr, ist es offenbar leichter möglich, sich auf die radikalen Dimensionen dieses Wandels einzulassen, den wir bislang noch kaum wahrzunehmen und zu begreifen wagen. Umso wichtiger ist es, sich über das zu verständigen, was gerade geschieht, lese ich in der ZEIT vom 14.6.2018.

Dort fragt der politische Chefredakteur der ZEIT, Bernd Ullrich: „Wie radikal ist realistisch?“ angesichts des Epochenbruchs, den wir gerade erleben. 500 Jahre Vorherrschaft Europas und 100 Jahre westlich-amerikanische Dominanz gehen zuende – mit unabsehbaren Folgen. Und die „wechselseitigen Aggressionen, die neuerdings das Land durchpeitschen“ erklärt Ullrich als „Reaktionen auf Prozesse, die von keinem so leicht zu verarbeiten sind“.

Auf diese historischen Prozesse antwortet der Kongresse mit über 20 Vorträgen und mehr als 50 Workshops – und das durchaus offensiv! Die Unsicherheit, die der Wandel in uns auslöse, sei gut so! So die These der Philosophin Dr. Natalie Knapp, deren kluge Leidenschaftlichkeit die über 1000 Kongressteilnehmern mit stehenden Ovationen würdigten.

Dr. Knapp nannte fünf Gründe, warum unser Gefühl der Unsicherheit  uns nicht peinlich sein sollte, denn es helfe uns sehr und mache Sinn. Die Unsicherheit sage uns: Vorsicht! Das, was du gerade erlebst,  ist keine Routinesituation mehr. Du kennst dich hier nicht aus, denn es geschieht etwas ganz Neues. Schau hin, nehme es wahr und spreche mit anderen Menschen darüber! Denn wenn wir unsere Unsicherheit nicht benennen, sondern ignorieren wird daraus Angst. Und die mache uns aggressiv, so Knapp, und das habe fatale Folgen.

Für die Philosophin ist Unsicherheit ein Anzeichen dafür, dass unsere Zukunft offen ist, unser Wille frei ist und wir Hoffnung haben dürfen, dass auch etwas Neues und Schönes möglich ist.  „Jeder Mensch hat das Recht, die Kraft und die Fähigkeit, morgen anders zu leben als heute!“ Die gefühlte Unsicherheit macht uns kreativ. Dr. Knapp zog als Beispiel die Pubertät heran, in der sich das Gehirn fast komplett neu organisiere. Die Pubertät sei ein Geniestreich der Evolution zur steten Erneuerung der Gesellschaft. Das Leben brauche, um lebendig zu bleiben, neben der Sicherheit auch die Unsicherheit – so wie eine Batterie neben dem Plus- auch einen Minuspol benötige, um Strom erzeugen zu können. Als Pluspol im Leben nannte Knapp Resonanz-Oasen wie gelingende Beziehungen, Musik, Kunst und Natur, wo wir uns in besonderen Momenten mit etwas Heilem verbinden können.

Wenn uns etwas innerlich berührt, können wir Kontakt kommen mit den Qualitäten einer besseren Zukunft, und das könne der Ausgangspunkt neuer Strategien sein, so Adrian Wagner, der sich „Intellektueller Schamane“ nennt und Leadership-Trainings für internationale Organisationen leitet. Für Wagner wird Planungssicherheit zunehmend zur Illusion. Der eine Grund sind exponentielle Entwicklungen, die sich mit jedem Schritt verdoppeln. Wir sind blind für die mögliche Wucht dieser sich selbst verstärkenden Prozesse, weil wir ein stetes Wachstum, Optimierung und Expansion in der Wirtschaft ja grundsätzlich begrüßen. Der zweite Grund ist die Komplexität technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Noch sind wir mental auf Komplexität kaum vorbereitet, sagten zahlreiche Referenten des Kongresses, und behandeln das Komplexität, wo kleine Ursachen große Wirkungen haben können, noch wie etwas Kompliziertes, z.B. wie ein Uhrwerk oder einen Raketenstart, wo jedes Teil eine feste Funktion hat und kann und analysiert bzw. konstruiert und deshalb gesteuert werden. Komplexitäten erfahren wir u.a. durch unerwartete Nebenwirkungen und Rückkopplungen. Als Beispiel eines solchen „big loop“ nannte Prof. Dr. Dr. Stefan Brunnhuber den Flüchtlingsstrom aus Afrika, die auch eine Nebenfolge des Aufkaufes der Fischfangrechte vor Westafrika durch die EU seien, wodurch die lokale Fischereiwirtschaft zerstört wurde.

In vielen Vorträgen wird dieses Hinterherhinken unserer Konzepte und Handlungsmodi hinter der veränderten Wirklichkeit benannt. Für den wohl bekanntesten deutschen Trend- und Zukunftsforscher Mathias Horx bestimmen die Konzepte der Vergangenheit unsere Zukunft, solange wir „mindless“ bleiben in der rastlosen Jagd nach noch mehr Informationen, schnellen Kicks und Empörungsreizen. „Merke, worauf Du aufmerksam bist“, rät Horx zum bewußten Wahrnehmen seiner selbst. Nur so können wir einer einer „toxischen Medialität“ entkommen, die uns süchtig nach Sensationellem macht und uns zugleich in einer „Filterbubble aus Scheingewissheiten“ hüllt. Die Achtsamkeit wird zum neuen Megatrend werden, ist sich Horx sicher.

Wie können wir es bemerken, dass wir in einer Matrix leben, fragt auch Joachim Galuska. Für ihn beginnt der Wandel im Kopf. Aber nur, wenn wir uns freimütig und geduldig fragen: „Was ist hier eigentlich los?“ und  uns nach Prof. Brunnhuber die Frage stellen: „Wer werden wir einmal gewesen sein?“ wenn wir so weitermachen wie bisher.

Die alten Muster des Wahrnehmens und Handelns greifen nicht mehr, so der Unternehmensberater und Coach für Führungskräfte, Albert Pietzko: „Wir sind gerade im Aufwachraum unseres Lebens“ , in dem wir lernen,  neu hinzuschauen und Krisen als einen Durchbruch zur Lebendigkeit zu verstehen.

Für die Organisationsentwicklerin Dr. Dorothea Hartmann passt unser lang bewährtes, inzwischen aber überholtes mechanistisches Weltbild nicht mehr. Doch noch tun wir weiterhin so, als ob es eine objektive Wirklichkeit gibt mit harten Fakten, unveränderliche Gesetze und einer einzigen Wahrheit. Hier dieser Welt die „Macher“ zuhause und führen ihre Mitarbeiter per Anweisung und Instruktion.

Dieser mechanistische Blick auf die Welt ist zu kurzsichtig geworden, so Dr. Hartmann. Er müsse ergänzt werden durch ein systemisches Weltbild vieler Wirklichkeiten, die miteinander ins Gespräch kommen und integriert werden müssen von den Führungskräften der Zukunft. Sie können als „Ich“ wie bisher entschieden handeln, aber zugleich auch als „Selbst“ eine Verbundenheit empfinden zur Erde mit ihren Lebewesen, zu den Menschen und zu sich selbst.

Die Führungskräfte der Zukunft suchen nicht mehr vor allem nach Schuldigen und Sündenböcken, die mal ordentlich „auf den Topf gesetzt“ werden müssen, sondern verstehen sich als empathisch-reflektierte Gestalter.  Sie fragen sich selbstkritisch, was sie selbst mit ihrem Tun bzw. Unterlassen beigetragen haben zu dem Problem, was es daraus zu lernen und zu tun gibt. Damit übernehmen sie selbst Verantwortung statt sie auf Andere abzuschieben. Dr. Hartmann zeigt sich absolut überzeugt davon, dass sich dieses neue Denken, Lernen und Fühlen in den nächsten zehn Jahren durchsetzen wird in den Chefetagen der Unternehmen und Institutionen. Noch aber werde dort darüber nur im persönlichen Gespräch quasi hinter vorgehaltener Hand gesprochen.

Bisher bestimmt aber eher eine ökonomisch forcierte Effekthascherei das Handeln auch von Medizinern, so der Philosoph und Internist Prof. Dr. Giovanni Maio. Er plädierte geradezu provokativ für die „Wiederentdeckung der Geduld als Grundlage allen Heilens“. Die Geduld sei keine Schwäche, sondern ein bewußter und vorläufiger Verzicht auf ein Handeln, wenn es die natürlichen Heilungsprozesse nicht wirklich beschleunigen kann. Ärzte sollen schnell sein können, aber nicht aus Prinzip. Heilungsprozesse sind eben nicht linear und damit beschleunigungsfähig, so wie ein Zupfen das Gras nicht schneller wachsen lässt. Hastiges Handeln dokumentiert letztlich Hilflosigkeit und eine fehlende Souveränität gegenüber den ökonomischen Imperativen, die dem Heilen fremd sind.

Den wohl radikalsten und bewegendsten Vortrag hält der kürzlich emeritierte Prof. für Journalistik, Kommunikation und Ethik, Dr. Claus Eurich. Er zitiert in diesem Meisterwerk an Präsenz, Gedankenfülle und radikaler Klarheit die fatale Prognose des im März verstorbenen Astrophysiker Stephen Hawking, der dem menschlichen Leben auf der Erde nur noch 50 Jahre gibt. Dann werden die  Lebensverhältnisse für uns Menschen unerträglich sein, denn es sieht ja alles danach aus, dass wir weiterhin konsequent den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Offenbar schließt sich wieder das Kairos-Fenster eines möglichen Wandels in Form eines Schubs in der Bewußtseinsentwicklung der Menschheit, wie es ihn historisch in der Achsenzeit 500 v. Chr. und im Mittelalter gab.

Eurich mutet uns den Schmerz zu, diese fatale Wirklichkeit klarer als je zuvor zu spüren. Zugleich lädt er ein, ebenso bewußt die vielen kleinen und berührenden Kairos-Momente des Lebens wahrzunehmen im Wissen, dass diese Momente für uns alle  schon bald wieder unwiederbringlich vergangen sein werden. Eurich plädiert für ein Handeln, das sinnvoll wäre für eine enkeltaugliche Gesellschaft, und zwar auch dann, wenn es sich als vergeblich herausstellen sollte. Sein Appell geht direkt ins Herz:  „Handeln wir so, als ob es hätte anders werden können!“ Dann bewahren wir auch Scheitern das, was uns zu Menschen macht: unsere Würde.