Können wir uns das vorstellen, dass die Gegenwart eine Art Experiment ist, das mit uns veranstaltet wird – mit der Fragestellung: Können wir auch unter Stress menschlich bleiben, locker, offenherzig und mutig zugleich? Ja, ich möchte gerne ermutigend und inspirierend wirken gerade in Zeiten, die uns immer mehr Angst machen.
Bis vor kurzem war die Globalisierung eine Einbahnstraße. Der Westen konnte sich 500 Jahre lang aus dem globalen Süden „einseitig holen, was er brauchte und konnte dort arbeiten zu lassen zu Bedingungen, die bei uns keiner akzeptieren würde“, schreibt der stellv. Chefredakteur der ZEIT, Bernd Ulrich in seinem neuen Buch „Guten Morgen, Abendland. Der Westen am Beginn einer neuen Epoche“.
Jetzt kämen Klimafolgen und Konkurrenten auf, Terroristen, Flüchtlinge seien uns so nah wie nie zuvor, so Ulrich. Mit der Demut der Gedemütigten im globalen Süden gehe es nun zuende. Entweder werde die obszöne Ungleichheit verringert oder der gewalttätige Kern dieser Ungleichheit trete offen zutage.
Die Angst vor dieser offenen Rechnung, die der Rest der Welt mit dem Westen hat, kann keine Regierung wegmachen, ohne zugleich weiteren Schrecken zu verbreiten. Für Ulrich haben wir die Wahl zwischen dem liberalen Prinzip, zu teilen oder dem autoritären Prinzip, uns abzuschotten und uns den Rest der Welt zum Feind zu machen.
Ohne die Liebe zum Leben so wie es ist in all seinen Faszetten werden wir stumpf und hart werden, glaube ich. Wir werden kaltherzig und gemein und am Ende böse und immer brutaler. Unser Lachen wird zynisch werden und unsere Freude nur noch Schadenfreude oder künstlich animiert sein von einem Spaßmacher aus Funk und Fernsehen.
Die Sache steht auf Messers Schneide. Der Stress wird nicht nachlassen. Wir haben ihn uns letztlich selbst eingebrockt: die ungewollten Nebenfolgen unseres Wirtschaftens wachsen uns über den Kopf – angefangen von maroden Brücken, Straßen und Schulen bis hin zur Umwelt-, Bildungs- , Finanz- und der globalen Krise.
Zugleich registrieren die Ärzte immer kränkere Körper und immer erschöpftere Seelen. Und das gerade jetzt, auf dem historischen Höhepunktes unseres Wohlstandes, sind wir nur noch fähig und bereit, ihn bockig, bissig und gehässig mit Zähnen und Klauen zu verteidigen als das Schönste und das Wertvollste, was wir uns vorstellen können??