Wenn Panik politisch wird und zur autoritären Versuchung

Der Umgang mit dem Corona-Virus hat, so richtig er zu Beginn war, nach und nach zu einer fatalen Eigendynamik geführt. Im Namen der Solidarität wurde die Politik gegenläufig zu anderen Staaten immer rigoroser, um möglichst jede Ansteckung zu verhindern. Dabei wurden die Warnungen u.a. von Kinderärzten ebenso ignoriert wie die Erfahrungen anderer Länder.
Wenn es um das ultimativ Gute geht, sind wir offenbar nicht vor einer autoritären Versuchung gefeit. Und darüber gar nicht sprechen zu wollen, zerstört noch mehr Vertrauen. Es sind immer die leichten Siege, für die wir am Ende den höchsten Preis zahlen müssen…
Hier der Versuch einer systemischen und möglichst fairen Erklärung, die zugleich mit dem sog. Wertegesetz eine ziemlich praktische Lösung aufzeigt.

Neu: Die Tragik des Gesundheitsministers

Er war damals auf dem Höhepunkt der Pandemie der wichtigste Mann: es war Karl Lauterbach, der den Ernst der Lage offenbar erkannt hatte wie kein anderer. Entsprechend lautstark und überzeugend waren seine Warnungen, die ihn in das damals wichtigste Amt der Bundesregierung gebracht haben und ihn persönlich damit wohl zum größten Erfolg seines Lebens. Kann man es diesem Mann verdenken, dass er das Warnen dann nicht mehr lassen konnte? Immer kündigte er neue Wellen an, die eine gefährlicher als die andere. Menschlich ist das verständlich, aber für das Gemeinwohl ist es fatal, wenn das persönliche Geltungsbedürfnis über der Sache steht. Diese fehlende innere Souveränität von Politikern kommt uns teuer zu stehen.

Wenn Panik politisch wird – zum Umgang mit Corona

Die Corona-Politik hat, so richtig sie zu Beginn war, zu einer fatalen Eskalation geführt. Politik und Medien waren wie in einem Bann. Fehler wie das Schließen von Kitas werden inzwischen eingestanden, aber warum ohne Worte des Bedauerns? Woher kommt diese kühle Härte den Menschen gegenüber, die man doch retten wollte? Und die Ignoranz gegenüber anerkannten Wissenschaftlern, die aber nicht in den Kram passten?

Die Kinderärzte beispielsweise waren mit ihren Warnungen bereits im April/Mai 2020 „wohl nicht laut genug“, sagt Gesundheitsminister Lauterbach im SPIEGEL-Interview. Auch viele andere Fachleute hatten sich früh und immer wieder zu Wort gemeldet und zahlreiche Stellungnahmen verfasst. Doch ihre Bedenken waren durchweg unerwünscht: „Man wollte nicht wissen und hat Äußerungen, die nicht passten, ignoriert oder diffamiert und sehr schnell in die Querdenker-Ecke gestellt. Und die Medien spielten mit“, so Prof.Dr.med. Ursel Heudorf im Hessischen Ärzteblatt 5/2023. Wie ist das zu erklären? 

Der Auftakt war im März

Es muss die pure Angst vor dem Worst Case gewesen sein, die Politik und Medien getrieben hat. Diese Angst kam zum Ausdruck im Strategiepapier des BMI: „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“. Das pandemische Covid-19-Virus sei „die größte Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“, hieß es dort. Das bestätige „ein Expertenteam von RKI, RWI,IW, SWP“ sowie der Universitäten Bonn, Lausanne und Kassel. Dieser Verweis erfolgt allerdings ohne Daten und Belege.

Dieses Szenario konnte aber offenbar so glaubwürdig präsentiert werden, dass Politik und Medien sich in der Verantwortung gefühlt haben, diesen Worst Case so „unmissverständlich, entschlossen und transparent“ zu verdeutlichen, dass „eine Schockwirkung“ entstehen konnte, um den drohenden Kollaps zu verhindern.

Politik und Medien kämpfen für das Überleben

In einer übergroßen Gefahr schaltet unser Gehirn in den sog. „Überlebensmodus,“ sagt Frank Urbaniok. Der Deutsch-Schweizer ist forensischer Psychiater und war 20 Jahre lang Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kanton Zürich.  Unser Verstand habe zwar das Potential zum logischen Denken und differenzierten Erfassen der Wirklichkeit, so Urbaniok, in einer Situation aber, wo es um Leben und Tod geht, müsse er sich schnell orientieren und klare und eindeutige Entscheidungen fällen.

Dann urteilt unser Verstand bipolar und absolut. Wenn „jeder Corona-Tote einer zu viel ist“, gibt es nur entweder – oder. Eine so große Not kennt denn „kein Gebot“ und „keine roten Linien“ mehr. In diesem Denken kann dann auch nur EINS richtig sein und ALLES andere wird folgerichtig falsch.

Dramatisieren wird zur Pflicht

Was zuvor verpönt war, eine hemmungslos alarmierende und dramatisierende Berichterstattung, wurde jetzt auch für die Leitmedien zu einer geradezu staatsbürgerlichen Pflicht. Fast täglich jagte Hiobsbotschaft die andere, bebildert mit Infizierten, die auf kollabierenden Intensivstationen um ihr Leben kämpften. In den Talkshows konnten den Beteiligten die Maßnahmen kaum schnell, umfassend und radikal genug sein. Es entwickelte sich ein Überbietungswettbewerb um die strengsten und härtesten Maßnahmen, um dem drohenden Kollaps zu entgehen. Die Exekutive wollte „Nägel mit Köpfen“ machen auf eine Weise, dass Rücksichten auf die Verhältnismäßigkeit (Art.5 GG) und die Gewaltenteilung bloß hinderlich wirkten.

Von der Ohnmacht zur Allmacht

In dieser Situation war es nicht mehr opportun, die Einwände von Kritikern zu berücksichtigen, denn das hätte die Strategie verwässern und die Bürger verwirren können. Wer noch differenzieren, abwägen oder eine andere Sicht einbringen wollte, wurde jetzt als Bedrohung wahrgenommen. So jemand galt als „fragwürdig“, als „Verharmloser“ oder „Leugner“. Für diese Einordnung reichte bereits der Gebrauch gewisser Worte, so wie umgekehrt der Gebrauch bestimmter Formulierungen nötig war, um überhaupt noch als vertrauenswürdig zu gelten.

Das Zusammenspiel von „Hosianna“ und „Kreuziget ihn“ erreichte den Höhepunkt, als mit dem modernsten Impfstoff die ultimative Waffe im Kampf gegen das Virus ins Spiel gekommen war. Die Erfinder der neuen Impfstoffe wurden als Helden gefeiert. Nichts konnte ihren Glanz trüben, denn nur sie allein konnten das Land vor dem Kollaps bewahren. Wer trotzdem noch skeptisch war und sich nicht impfen lassen wollte, musste Worte über sich lesen, die an Gehässigkeit kaum zu überbieten waren. 

In dieser Situation war es nicht opportun, die Einwände von Kritikern zu berücksichtigen, denn das hätte die Strategie verwässern und womöglich die Bürger verwirren können. Wer noch differenzieren, abwägen oder eine andere Sicht einbringen wollte, wurde als Bedrohung wahrgenommen. Ihnen konnte es passieren, als Verharmloser und Leugner diskreditiert zu werden. Im öffentlichen Diskurs waren sie damit als „fragwürdige“ Personen abgemeldet.

Man sei damals „von der Hysterie getrieben worden“, bekannte der Thüringer Ministerpräsident Ramelow in der ZEIT vom 26.1.23. Wann jemals haben die Medien auf eine intellektuell so schlichte Weise eine so große Macht über die Menschen ausüben können? Und das mit dem besten Gewissen und geradezu unantastbar?

Wie die Aufarbeitung gelingen kann

„Wir haben manchmal die Gesundheit über die Menschlichkeit gestellt“, so benennt der Vorsitzende des französischen Expertenrates, Jean-Francois Delfraissy, das Dilemma, in dem er sich sah. So ehrlich hat sich bislang kaum ein Politiker gemacht.

Bei Corona zeigte sich, dass das Leben eine Außen- und eine Innenseite hat: lt. WHO-Definition von Gesundheit kommt zum körperlichen das psycho-soziale Wohlbefinden, welches während der Pandemie ignoriert wurde. Die Frage „Willst die deinem Leben Tage oder deinen Tagen Leben hinzufügen?“ bringt dieses Dilemma zum Ausdruck. Als der Bundestagspräsident Schäuble an die Würde als den obersten Wert des Grundgesetzes erinnert hat, musste er in der ZEIT lesen, dass ihm der Lebensschutz egal sei. 

Für eine Dilemma-bewusste Politik

Probleme kann man sauber und erfolgreich lösen, während bei einem Dilemma jede Lösungsstrategie ihre spezifischen Nachteile hat. Statt eines „entweder-oder“ geht es um eine dynamische Balance des „sowohl- als auch“, die je nach Situation eine Seite betont, aber die andere nicht aus den Augen lässt und schon gar nicht als unwichtig abtut.

Natürlich ist es (bislang) für Politiker und Medien attraktiver (und auch lukrativer), sich grundsätzlich als Problemlöser zu profilieren. So sind wir es gewohnt und so machen es alle. Und zeigen sich dann angesichts der Nebenfolgen überrascht, wenn sie sie überhaupt zur Kenntnis nehmen und nicht zynisch abtun wie Karl Lauterbach (s.o.).

Für die Nebenfolgen wird dann der nächste Problemlöser gesucht und so fort. Trotzdem haben wir grundsätzlich ja die Chance, im Problem das Dilemma zu erkennen: die zu erwartenden Nebenfolgen sind dann 1. leichter zu kompensieren und das Thema kann 2. fair und kontrovers zugleich diskutiert werden. Dann müssten aber die Akteure das Wohl des Volkes über ihr eigenes Geltungsbedürfnis stellen können.

Für ein neues Mindset in Politik und Medien

Ein in diesem Sinne souveräner Politiker würde im Timing seiner Maßnahmen Prioritäten setzen, aber nicht grundsätzlich und aus Prinzip. So kann er auch Kritiker anhören und integrieren, ohne sich etwas zu vergeben. Er würde damit einer Polarisierung der Gesellschaft vorbeugen, denn „wer sich zu lange nicht gehört fühlt, wird sich irgendwann unerhört benehmen“, warnte der wohl renommierteste deutsche Kommunikationspsychologe, Friedemann Schulz von Thun schon lange, bevor es die AfD gab.